Freitag, 26. Mai 2023

Die paradoxen Freuden in Albrecht Dürers Fantasien

„Jüngling und Henker”
von Albrecht Dürer, 1493

Zeitgeist oder mehr?

Der Maler und Grafiker aus Nürnberg, den viele als den größten deutschen Künstler der Renaissance ansehen, fertigte diese Zeichnung im Alter von 22 Jahren an. Über die Neigungen des begabten Menschen, der schon mit 13 Jahren die Technik des Silberstiftes beherrschte, wurde viel spekuliert; und eine auf griechisch verfasste, aber übersetzt völlig unzweideutige Aufforderung zu einer homosexuellen Penetration aus einem Brief seines Freundes Pirckheimer beseitigt alle Zweifel, dass die beiden mindestens gut aufgeklärt waren. Dass Albrecht ohne Kinder blieb, in der damaligen Zeit sehr ungewöhnlich, ist kein Beweis für außereheliche sexuelle Betätigung, wohl aber ist bekannt, dass er in Venedig die Furcht vor einer Ansteckung mit einer Lustseuche äußerte.
Diese Zeichnung jedoch, die er nach der Fertigstellung noch einmal überarbeitete, wie die Tintenanalyse ergab, vertieft die Erkenntnisse über sein Privatleben noch einmal, und eine Komponente taucht auf, die bislang in der Literatur noch nicht beachtet wurde.
Es scheint so etwas gegeben zu haben wie ein „Jus ultimae noctis”, einen Freibrief für den Henker, sich an dem Tags danach zu Enthauptenden gütlich zu tun, was sicherlich in erster Linie weibliche Delinquenten betraf.
Die Haltung des Henkers mit einer neugierig tastenden Hand auf der linken Schulter des Jünglings weist deutlich auf sein zärtliches Interesse; ein weiteres Detail der damaligen Männertracht ist ein wenig im Schatten versteckt, aber deutlich sichtbar im Zwischenraum zwischen Rumpf und Arm des jungen Mannes. Es ist die Braguette, die Schamkapsel, die das Geschlechtsteil mehr betonte als verbarg, es zwar verhüllte, aber Raum ließ für protzige Auffüllung. „Brag” ist denn auch ein Verb im Englischen, das „protzen” oder „angeben” bedeutet.

Das ist keine Hinrichtung

Die Texte im Internet, die Bezug nehmen auf die homosexuelle Komponente in diesem Bild, liegen also offenbar nicht falsch. Es kommt für mich aber noch eine Feinheit hinzu. Anders als die übrigen Autoren schlage ich vor, dass diese Zeichnung sich durchaus nicht nur auf die Möglichkeiten der Henker in jener Zeit bezieht, sondern dass sie etwas aus dieser rauen Wirklichkeit sublimiert und in den Bereich der Fantasie hebt, was den Gedanken der Tötung aus dem Bild verbannt. Und der erste Punkt, an dem ich das festmache, ist der Ausdruck im Gesicht des Jünglings. Es ist das Entspannte darin, das Gelöste, das von keinerlei Todeserwartung spricht; auch wäre diese Situation in der Realität, ein Sex-Akt in der Nacht vor einer Hinrichtung, allenfalls ein Genuss für den Henker, während man sich kaum vorstellen kann, dass es für sein Opfer etwas anderes wäre als eine Vergewaltigung vor dem Hintergrund des nahen Todes, was einem schon den Spaß verderben kann.
Dieser Verurteilte wirkt in seiner Hingabe, seiner Gelöstheit auf keinen Fall wie einer, der in der Morgendämmerung auf den Richtplatz geht. Im Gegenteil, er wirkt auf mich eher wie jemand, der einer großen Sorge und Gefahr entkommen ist. Jemand, der dem Druck entgeht, den vielleicht der Gedanke plagte: „Es ist bei Todesstrafe verboten, das zu tun, du kommst in die Hölle, und alle werden dich hassen.” Er wirkt wie jemand, dem diese Last genommen wurde, und der Henker wird zum Beschützer, der ihn zu etwas führt, das er noch nicht kennt und auch ein wenig fürchtet, aber doch nur so viel fürchtet, dass es geil ist. Er drückt die Oberschenkel zusammen, seine Füße sind etwas verkrampft, die Zehen kringeln sich, als liefe der Nervenimpuls ganz durch ihn hindurch, und seine Arme, die eine Geste der Widerstandslosigkeit machen, sind dennoch nicht ohne Spannung. Sucht der nackte Fuß nicht sogar den Kontakt mit dem seines Herrschers? Gibt er ihm einen Anstups, „mach weiter”?
Es ist leicht zu denken, dass dieser junge Mann sich in einem Sub-Raum befindet, den Albrecht träumen kann, und sieht er mit seinen langen Locken, die mit einem Bändchen hochgebunden zu sein scheinen, nicht aus wie Albrecht selber? Und könnte der Henker nicht ein jugendlicher Pirckheimer sein, den Albrecht schon in jungen Jahren kannte und dem er sicher vertraute?
Die Schwingung von Top und Sub, die in diesem Bild liegt – symbolisiert durch das nur in der Vorstellung todbringende Schwert – scheint mir die homosexuelle Komponente deutlich zu überlagern. Auch eine Delinquentin, in gleicher Weise kniend und entblößt, würde die Fantasie der Betrachter entzünden, die hierfür empfänglich sind. Sie würden die Härte des langen, blanken, spitzen Schwertes in Beziehung setzen zu der Hand auf der nackten Schulter und diesen Gegensatz lustvoll kontemplieren. Das Schwert soll aber nicht geschwungen werden. Safe, sane, consensual und mit Happy End.

"Mein Agnes", 1494

Liebesehe oder Arrangement?
Ein Jahr nach Verfertigung dieser Zeichnung heiratet Dürer Agnes Frey. Sie war zwar nicht reich, gehörte aber zu einer Familie, die, im Gegensatz zu den Dürers, in Nürnberg schon lange sesshaft war. Die Kinderlosigkeit mag schlicht auf Unfruchtbarkeit beruhen. Die Ambivalenz, die es zwischen ihnen gab, lässt mich denken, dass sie einander gestanden, keinen Sex miteinander haben zu wollen, aber dass das Kloster für sie keine Option war? Dass sie als Konsequenz einen Deal hatten?
Dürer hat mit der Zeichnung von Henker und Jüngling  seinen Wünschen wohl in einer Weise Luft gemacht, die in der Tradition der symbolischen Verrätselung liegt. Wenn man in seiner Zeit, um 1500, die Dinge zwar umschrieb, aber doch drastische Worte fand, war das im 19. Jahrhundert gänzlich unsagbar, undenkbar. Man hat lange auch die Hinweise auf seine Beziehung zu Pirckheimer als eine Männerfreundschaft erklärt, die keinen physischen Vollzug fand. Ob das stimmt, werden wir nie wissen, möglich, dass es auch bei verbalen Kraftakten blieb. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie nicht so zimperlich waren wie das Biedermeier.

Pirkheimer, 1524

Was wir wissen, ist, dass die Frau, die er auf einer Skizze liebevoll als „mein Agnes” benannte, auf Pirckheimer eifersüchtig war und ihn nicht mochte. Pirckheimer wiederum stellte in Aussicht, er werde Albrechts Frau beschlafen, was den Ehemann zu einer ziemlich gehässigen Antwort veranlasste, dass dürfe der Freund nicht tun, es sei denn, sie stürbe dran. Grobe Scherze, die es an Frauenfeindlichkeit nicht fehlen lassen, werfen ein Licht auf die handfeste Freundschaft von Männern, die alles über einander wussten, zusammen das Bordell besuchten und sich nichts zu denken verkniffen. Schwer vorzustellen, dass sie sich alles zu tun verkniffen. Kann man sich vorstellen, dass auch gezielte Zufügung von Schmerz in einem sexuellen Kontext darin Platz hatte? Warum hat in der Grafik „Männerbad” der eine Mann eine Blume in der Hand, der andere einen Striegel? Das, womit man Pferde auskämmt, ist ein recht martialisches Gerät, das durchaus geeignet ist, einen wohldosierbaren und kontrollierbaren Schmerz zuzufügen. Ich kann mir gut vorstellen, dass Pirckheimer, statt zum Schwert, zum Striegel gegriffen hat, um sich mit Albrecht ein paar schöne Stunden zu machen.

https://sammlung.staedelmuseum.de/de/werk/das-maennerbad

 http://www.queercn.de/dokumente/queercn_neuigkeiten_17.pdf

 https://www.nordbayern.de/2.5886/mann-oder-maid-wen-liebte-durer-1.1681543


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