Donnerstag, 27. Oktober 2016

Aus: "Der Mund der Wahrheit" -- Ein Novellenzyklus vom Rande der Realität

 
Ein weiteres Buch: Novellen aus den Achtzigern. Diese schrieb ich mit etwas mehr literarischem Anspruch, dafür sind sie BDSM-frei. Dennoch fehlt es ihnen nicht an Brisanz. Transsexualität, Vergewaltigung, Burka, schwule Liebe über eine politische Kluft hinweg sind die Themen. Geschichten aus einer Welt ohne Handys und ohne Internet. In wenigen Tagen erhältlich, 216 Seiten, 14 farbige Illustrationen im Innenteil, traditionelle Rechtschreibung, 14,90 €.


Auszüge aus der Novelle

Die unsichtbare Frau

1

... Liebe beginnt immer mit steilem Aufstieg. Manchmal sogar mit dem Höhepunkt. Sie folgt genau umgekehrt der Dramaturgie, die wir im Deutschunterricht für den Aufsatz lernen. Nach dem Gipfel schleppt sich die Handlung in die Ebene, sich gnadenlos verlangsamend, und du erfährst — ebenfalls in sauberem Gegensatz zum Aufsatz — immer weniger. Einen Monat lang waren sie blödsinnig verliebt gewesen und hatten mehr Zeit im Bett verbracht als außerhalb. Dann zankten sie sich: Armand hatte irgendwas geäußert, woran die versierte Leserin des „Märchenprinzen“ den Macho erkennt; wahrscheinlich war es ein Verriß des beliebten Breviers für die linke Frau; vielleicht hatte er sich soweit verstiegen zu sagen, sie müsse sich nicht wundern, als linke Frau auch nur linker Hand geehelicht zu sein. Ja, das hat er gesagt, Gott ver­zeih’s ihm. Er hat nicht beabsichtigt, sie zu demütigen, sagte er wenig­stens später, nein, er habe doch wirklich nur die Unlogik geißeln wollen, mit der seine Geliebte die bürgerliche Ehe verwarf und sie zugleich als ihre persönliche Lebenserfüllung anstrebte.
Welche Ohrfeige ins ehrliche Angesicht! Welcher Lohn für den heldenhaften Verzicht auf ein weißes Kleid und Einbauküche!
Die erste Wunde war geschlagen, die erste Narbe verunzierte unheil­bar ihre Liebe.
Armand war enttäuschst und fühlte sich unverstanden. Er suchte durchaus eine ebenbürtige Partnerin, keine, die er unterdrücken wollte, das warf sie ihm zu Unrecht vor. Und so kam er denn auch immer wieder an Frauen, die durchaus gescheit waren, aber sie schienen dem Frieden nicht zu trauen und nach ersten Gesprächen in eine Art Tarnverhalten überzu­gehen, und gaben so dumme Antworten, daß Armand wähnte, intellek­tuellen Mogelpackungen aufgesessen zu sein, während doch die Mädels mit halber Kraft fuhren, um ihn desto heller erstrahlen zu lassen.
Wenn er gerne zuhörte, anstatt den belehrenden Doktor Doolittle zu geben, so lag das an der Entdeckung, daß der Undercover-Agent sicherer ist als der Krieger auf freier Fläche. Leute, die ihn belehrten, erschütterte er gern in ihren Grundfesten durch naive Fragen, sobald er ihre Wis­sens­lücken spürte. Vorzugsweise bei studierten Gesprächspartnern kam das gut. Hinterließ auch oft bleibende pädagogische Wirkung.
Es waren selten Frauen, die er auf diese Weise bloßstellte. Hier war die Stoßrichtung eine andere, nämlich sie zu provozieren. Aus der Erfah­rung, nicht für voll genommen zu werden, aus der Erfahrung der unzäh­ligen Kränkungen, die Frauen durch Männer erfahren, wenn sie ihr Stimm­chen erheben, kam die Energie für den empörten Höhenflug.
Armand liebte diese Empörung, er begehrte Frauen besonders heftig, wenn sie mit blitzenden Augen auffuhren. Er besänftigte ihren Zorn so weit, daß die Demütigung gesühnt war, aber eben nur so weit, daß noch genug Schmähungen auf ihn niederprasselten, auf den Lumpenkerl, der sie so hereingelegt hatte, daß der Aufwind für einen Scheinkampf mit wohl­dosiertem Widerstand noch ausreichte.
„Will ich Plätzchen backen? Oder Blockflöte spielen?“ fragte er, wenn seine Freundinnen etwa Kerzenlicht für angesagt hielten und eine Schmuseplatte rotieren ließen, „das Leben ist Kampf, eine stimmungsvolle Kuschelstunde ist der Tod, vor allem, wenn arrangiert.“ Armand liebte an den unpassendsten Orten und zu den unpassendsten Zeiten — oder machte da wenigstens den Anfang. Er vertrat die Ansicht, ein Softie sei ein Mann, der einer Frau zuliebe seinem Sexus zu befehlen versuche; ein Macho dagegen gehorche seiner Natur und verlange daher von der Frau Anpassung. Darum führe Softietum früher oder später zu Siechtum und Impotenz...

2

Wo findest du den Jüngling?

Richtig. Vor dem „Eisberg“, dem Treffpunkt der Jugend an den im­mer noch sommerlich heißen Septembertagen. Da pirschte sie sich von hinten an ihn heran, wie er eben zierlich sein Eis bändigt, und murmelt so, daß niemand sonst es hört: „Gehn wir zu dir oder zu mir?“
Bedächtig und ohne sich von seinem Eis abzuwenden, antwortet er: „Aber ich wohne in Ellerbach.“
„Und?“
Junger Mann, Aquarell
Er hebt den Blick, den er fast die ganze Zeit auf sein Eis gerichtet hat, der nur mal unsicher von der Seite zu ihr hinflatterte, und hat ver­loren. Sternchen?? Dies ist die Aurora, der Panzerkreuzer, der seinen Widerstand niederschießt, Sturm auf den Winterpalast, das Ende des Zarewitsch.
Die ganze Zeit, als sie es taten, hat er gezittert. Er muß ihr nicht ver­raten, daß es das erste Mal ist. Was bleibt ihm anderes übrig, als auf dem Rüc­ken zu liegen wie ein Käfer und sei­nen Succubus machen zu lassen.
Nach und nach faßt er sich ein Herz, sie anzusehen und anzu­fassen: „Wo ist der Leberfleck?“
„Bluff nicht!“ lacht sie, „ich habe keinen.“
„Schade. Wir brauchen einen Schönheitsfehler, sonst kann ich dich nicht lieben.“
Überrascht hebt sie den Kopf.
„Wie meinst du das?“

„Meine Geliebte darf nicht per­fekt sein.“
Wieder lacht sie.
Da sieht er, daß ihre Zähne ein wenig schief sind, der eine Schneide­zahn tritt etwas hinter den anderen zurück. „Das ist es!“ Er zeigt begeistert darauf. Verschämt preßt sie die Lippen zusammen.
Sie geniert sich manchmal zu lächeln. Aber dazu wird Joschi sie schon bringen.
Sie sind allein in der riesigen Villa. Der Flieger der Alten wird morgen vormittag landen. Joschis großer Bruder schläft im Wäldchen am Fluß. Und Suse verwüstet das arme Kind bis zur Bewußtlosigkeit.
 Josef! Wir sind wieder da!“ —
Hah! Oh, Gott! Suse!
Suse ist schon weg. Joschi hat geschlafen wie tot. Die Mama macht eloquent Frühstück. Madrid und Barcelona rauschen auf ihn nieder samt überwältigender Schönheit und aufregenden Pannen. Ein großes Früh­stück soll es geben. Joschi sitzt im Morgenrock in der Küche, unge­wa­schen, Haare wie ein Vogelnest. Papa kommt herein: „Und du, Josef, ziehst dich jetzt ordentlich an, wir wollen ein schönes Wieder­sehens­früh­stück mit dir feiern, und du wirst in einer halben Stunde gepflegt aussehen, wie du das machst, ist mir egal.“
Na, gut. Das Bad ist mein. Joschi schließt sich ein, bedauert ein wenig, Suses Geruch von sich abzuwaschen, aber bei Gelegenheit wird man dieses Parfum wieder tragen. Er duscht, er kämmt sich einen strammen Pferdeschwanz. Dann plündert er Mamas Seite des Spiegelschranks. Ist das eine Vitaminbar oder eine Galerie Nagellack? Candy Peach, Raspberry Frost, Burgundy Grape… Josef entscheidet sich für Deep Cherry. Und Lavender Sun für die Augenlider. Wie macht sie das mit der Wimpern­tusche? So wohl… Hm. Nicht schlecht.
Bißchen blaß noch, der junge Mann. Was für Obst gibt es dage­gen? Apricot Glow, sagen wir mal. Gepflegt genug, Vater?
Nun noch Mamas Seidenkimono.
Papa macht gerade den Champagner auf, als Joschi wieder runter­kommt. Lachs und feine Käse, Baguettes, Salat und Kaviar hat die Mama schon aufgetischt, gleich kann’s losgehen.
Joschi tritt in die Schiebetür.
„Mama, Papa, ich muß euch was erzählen. Gestern, am Vorabend meines sechzehnten Geburtstages, hat mich eine verschleierte Frau über­fallen und vergewaltigt. Ist das nicht wunder-wunderschön?“

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