Band 5 und Prequel zu "Homsarecs!", kurz vor Vollendung, noch unpubliziert
Vorwort
Einsame
Jäger, die vor tausend Jahren in Ingermanland im Winter unterwegs
waren, schwebten in Gefahr, wenn sie den Weg verloren und es
dunkelte, bevor sie ihr Dorf erreichten. Doch pflegten solche
Notlagen am Ladoga-See oft durch Wunder gutzugehen. Da war dann in
der Dämmerung ein Feuerschein, der eine Siedlung oder ein Lager
verriet, doch wenn sie näher kamen, war kein Mensch zu sehen. Da
stand dann ein Kessel mit heißer Suppe auf Steinen nah am Feuer, das
sichtlich eben erst entzündet worden war. Sicher hätte der Jäger
auch selber Holz sammeln und Feuer machen können, allein, wenn
man erschöpft war, konnte man sich nicht dazu aufraffen, ruhte
ein wenig aus – und erfror.
Aber
war das nicht ein fremdes Lager?
Durfte
man einem Unbekannten sein Essen stehlen?
Doch
da hing wohl ein Stück Birkenrinde an einem Zweig, und darauf waren
die Worte »It alla jah yarms« eingeritzt, was der Sprache der
Waräger nah kam, und es bedeutete, man solle alles essen und sich
aufwärmen.
Dann
wusste man, dass die Thiere Gottes nah waren. Doch zeigten sie sich
nicht oft.
Man
wusste, dass sie gefährlich waren, wenn man sich mit ihnen anlegte.
Doch bewiesen sie auch Fürsorge für die anderen Menschen. Es hieß,
dass sie mit acht scharfen Zähnen geboren wurden, dass sie eine
Hitze erzeugten, die hohem Fieber gleichkam, dass sie kaum schliefen
und sehr schnell laufen konnten. Sie waren ein wenig größer als
durchschnittliche Menschen. Auch galten sie als unbesiegbar im Kampf,
da man sie auch nach einer Pfeilwunde mit verdoppelter Kraft kämpfen
sah. Und so kam es, dass sie von Fürsten und Generälen gebeten
wurden, die Heere als Wachen und Meldereiter zu begleiten.
Sie
leisteten Übermenschliches, doch ließen sie sich niemals durch
lange Verträge binden, ließen sich auch niemals die Haare
schneiden, blieben unter sich und wahrten ihre Sitten und Unsitten,
über die man Ungeheuerliches berichtete.
Wer
dann rastet und isst, kann sie wohl zu Gesicht bekommen. Sie freuen
sich, wenn man ihr Essen mag. Sie setzen sich eine Weile zu ihren
Gästen und essen auch ein Stückchen mit, lächeln über die Furcht
der Menschen, die sie die ‚Kleinen‘ nennen. Sie kommen zu Pferd
oder auf Ski. Sie sind leichter bekleidet als die Menschen, lassen
Schnee auf ihre Haut fallen und sagen, das sei ihnen angenehm.
Die
einen, die bei ihnen zu Gast waren, sagten, sie hätten sich mit
einer Umarmung verabschiedet, den leeren Kessel genommen und seien
verschwunden; anderen hatten sie ein Nachtlager angeboten, und ganz
Mutige nahmen das Angebot an. Sie erzählten dann von Hütten mit
einem Kamin statt Ofen, vom Schlafen in Pelzen, alle in einem Raum,
von unziemlichem, ja schamlosem Verhalten der Thiere untereinander,
von ungenierten Zärtlichkeiten zwischen Männern.
Und
es kommt auch vor, dass einer, der mit ihnen geht, lange nicht mehr
gesehen wird, gänzlich verändert wiederkehrt – oder gar nicht.
Hieronymus
Lohebrannt wischte die Tinte von der Feder ab und ließ den Löschsand
von seinem Schriftstück abgleiten, dem letzten für heute. Er musste
seine Arbeit beenden, bevor Augen und Hand zu müde wurden.
Dabei
war so viel zu tun. Er war von früh bis spät mit der Korrespondenz
seines Dienstherren, des Gouverneurs Oxenstierna, beschäftigt. Hin
und her gingen die Briefe, teils mit dem gleichnamigen Kanzler von
Schweden, seinem Onkel, teils mit dessen Sohn, der in Münster war
und in Gesprächen mit den Kaiserlichen die Chancen für ein
Friedensabkommen auslotete. Die schwedische Thronfolgerin war noch
nicht offiziell im Amt. Schweden und die von dieser Nation eroberten
Ländereien wurden vom Kanzler regiert, der seinen Cousin Gustaf in
Reval das östliche Grenzland verwalten ließ.
Hieronymus,
der in einigen Monaten vierzig Jahre alt sein würde, hatte von dem
langen, ermüdenden Krieg seinen Teil abbekommen. Nach Militärdienst,
Verwundung, Genesung und Arbeit bei einem Kaufmann in Lübeck hatte
eine Handelsreise ihn nach Reval geführt. Hier war es ruhig, man
merkte wenig vom Krieg, während in Norddeutschland die Schweden und
die Dänen von Neuem aneinandergerieten. Die Fahrt ging über
Rostock und Åbo, wo man weitere Waren an Bord nahm, dann kam die
elegante Fleute – ein holländischer Dreimaster – mit gutem
Wind zügig an den Inseln vorbei und erreichte die Revaler Bucht, wo
der spitze Turm von St. Olaf als erstes grüßte, flankiert von einem
vermutlich uneinnehmbaren, dicken Kanonenturm. Nun begann die
bekannte Prozedur der Verzollung. Den ganzen Tag protokollierte
Hieronymus die Entladung und Übernahme durch die örtlichen Händler,
die Weinfässer, Bierfässer, Säcke mit Salz, Tabak oder Hopfen
ausluden, und sie verteilten sie auf ihre Wagen oder per Flaschenzug
in den großen Speicherbau am Alten Markt. Einige Weinfässer waren
vom Rathaus bestellt; ein Sekretär des Gouverneurs zahlte bar und
ließ sich eine Quittung schreiben.
Auf
Einladung des Weinhändlers aß er mit ihm zusammen, war aber zu
müde, um dem Gespräch zu folgen, dem sich Freunde des Händlers
anschlossen. Lohebrannts Verstummen bemerkten sie kaum.
Für
die Nacht nahm er ein Zimmer in einer bescheidenen Pension im
Nikolai-Viertel, wo es nach dem Rauch der Schmiede und den Rössern
des Marstalls roch. Er legte sich früh schlafen. Morgen würde er
die Rückfracht kontrollieren, nämlich Roggen, Kerzenwachs und Talg,
Hanf, Pelze, Holz. Dann würde er die Barzahlungen überprüfen, sie
in den Listen eintragen und die Heimreise antreten. Er sah nichts
anderes als Kisten, Fässer und Säcke, als er die Augen schloss,
aber er gestand sich keinen Überdruss zu.
Anderntags
ließ ihn der Gouverneur zu sich bitten. Innerlich wappnete sich
Lohebrannt, man werde ihm einen Fehler ankreiden, weshalb er dem Ruf
ins Rathaus mit ein wenig Unbehagen folgte, zumal der Bote sich über
die Absichten seines Herrn ausschwieg,.
»Lohebrannt!
Schön, dass wir uns kennenlernen! Eure Schrift kenne ich schon. Ihr
seid doch vergeudet an ein Kaufmannskontor, in dem Ihr nur
Frachtlisten schreiben müsst«, trompetete der stattliche Gouverneur
ihm entgegen, kaum, dass er den Audienzsaal im Rathaus betrat, »Eure
Schrift könnte meine Briefe an Papst und Kaiser zu Kunstwerken
machen. Wollt Ihr für mich arbeiten?«
Da
lag die Quittung, die er geschrieben, vor dem Gouverneur auf dem
Tisch. Lohebrannt brauchte einige Augenblicke, um sich zu fassen.
Niemals hätte er von einer solchen Stellung zu träumen gewagt.
Er
verbeugte sich tief und schnitzte ein paar verbale Artigkeiten, um
seine Freude und Zustimmung auszudrücken. Inzwischen versammelten
sich einige Honoratioren der Stadt im Saal, und man gratulierte dem
Gouverneur zu seiner Heirat, die in Stockholm stattgefunden. Die
Braut würde ihm nach Reval folgen, eine ehemalige Hofdame der jungen
Königin, eine geborene De la Gardie. Auch Lohebrannt versäumte es
nicht, seine Glückwünsche auszusprechen, und zog sich dann zurück.
Sogar
für eine Unterkunft war bereits gesorgt. Ein Haus, das ihm schon bei
einem kleinen Rundgang als eins der schönsten in der Langstraße
aufgefallen war, beherbergte unverheiratete Kaufleute und hatte im
obersten Stock ein Zimmer mit Nebenkammer frei.
Das
Schiff seines bisherigen Dienstherren segelte ohne ihn zurück nach
Lübeck, nachdem er die Gelder und Listen an den Kapitän übergeben
hatte.
Die
erste Zeit wurde ihm nicht leicht. Briefe von wichtigem Inhalt und an
hochgestellte Persönlichkeiten mussten makellos sein. Sie sollten in
allen Städten Europas lesbar sein, so musste er Buchstabenformen mal
den italienischen Alphabeten anpassen, mal den in Wilna oder
Rotterdam üblichen. Es war nicht weniger anstrengend als seine
frühere Arbeit. Auch gab es viel in schwedischer Sprache zu
kopieren, was er bald mehr und mehr verstehen konnte. Die dauernde
Konzentration unterschied sich nur wenig von der Gewissenhaftigkeit,
die er für die Frachtlisten aufbrachte. Doch das Vergnügen, das es
ihm bereitete, immer neue Schwünge und Schnörkel für die
Überschriften der Dokumente und die Anreden der Herrscher Europas zu
erfinden, stellte alle seine früheren Aufträge in den Schatten. Er
studierte die Vorlagen mit Freude.
Auch
sein Gehalt war höher als jedes, das er in seinem Leben erhalten. Es
gab ihm Raum für bescheidenen Luxus, für neue, wenn auch nicht
auffällige Faltkragen und Spitzenmanschetten. Seinem Stand und der
Stellung war schlichtes Schwarz geschuldet, doch konnte man es mit
Silberknöpfen und einem Damastwams mit Akanthusblättern, dem
Kontrast von matt und glänzend, wesentlich verfeinern. Den Auftritt
vervollständigten ein kurzer Degen zur eigenen Verteidigung, in
diesen wilden Zeiten nicht unangebracht, ein weiter Mantel, leicht
und raschelnd in der warmen Jahreszeit, aus guter Wolle in der
kalten. Ein Paar weitschäftiger Stiefel und ein Barett mit einer
schwarzen Straußenfeder machte seine elegante Erscheinung perfekt.
Er
stand nun seit ein paar Wochen im Dienst des Gouverneurs. Jeden Tag
ging er hinauf zum Schloss, stieg den Langen Domberg hinauf, den
gepflasterten Aufstieg, der auch den Berittenen und den Kutschern der
Wagen möglich machte, den steilen Tafelberg zu erklimmen. Ein
Treppenpfad zwischen den Häusern, der Kurze Domberg, war die
anstrengende Abkürzung hinauf zur Burg. Hier wohnten die Adeligen,
hatten ihre Knabenschule und den Dom mit den Adelswappen an den
Wänden. Der einfache Beamte hatte hier wenig Gesellschaft außer
anderen, die emsig und wortkarg ähnliche Arbeiten taten wie er. Und
hier, in den kühlen Mauern aus dem grauen Schiefer der Steilküste,
schrieb er konzentriert Tag für Tag die Akten der Stadtverwaltung,
übertrug die flüchtigen Notizen der Ratsherren in eine schöne
Kanzleischrift zur immerwährenden Aufbewahrung und schaute aus dem
Fenster der Burg weit hinaus in den Westen des Landes. Am Abend
stieg er wieder hinab und gesellte sich um Abendessen zu den anderen
Bewohnern des Moritzhauses und brachte vergnügliche Stunden mit
ihnen zu, bis er in seine Stube hinaufstieg. So lebte er sich in
dieser neuen Heimat ein, bis er einen Ruf in die Unterstadt erhielt.
Der
Gouverneur wollte ihn näher bei sich wissen, um geheimere,
persönlichere Schriftstücke anfertigen zu lassen. Und so war sein
Arbeitsweg kürzer und die Arbeit noch unterhaltsamer. Das Rathaus,
ein grauer Bau mit gotischen Spitzbögen, war ein geschäftiger
Bienenstock, verglichen mit der Burg und ihren endlosen Korridoren.
Hier nun tagte der Rat, der so viel zu sagen hatte wie der
Gouverneur, und um dieses Gebäude lag der Markt, tobte das Leben,
hier roch es nach Fisch, geröstetem Speck und frischem Brot, hier
gab es Stimmengewirr, wurden Waren ausgerufen, Kinder
herumkommandiert und Konkurrentinnen beschimpft. Winden knarrten,
wenn Säcke mit Korn und Werg hinaufgezogen wurden, Fässer polterten
in den Keller hinab, Hufe schlugen auf das Pflaster, Schafe blökten,
wenn man sie zu Markte trieb, und Schweine grunzten und quiekten
empört, wenn man sie am Strick zerrte. Hieronymus ertappte sich
einige Male, dass er sich von dem possierlichen Leben ablenken ließ,
und riss sich zusammen, den Blick weiter auf seine Dokumente zu
richten.
Eine
besondere Versuchung, die seinen Blick aus dem Fenster lenkte, waren
die Wachen, die jeden Tag den Zugang zum Rathaus flankierten. Sie
trugen die Landesfarben, blaues Tuch und hell ockerfarbene Stiefel
und ebensolchen Gürtel, bronzene Schließen und Beschläge. Auch die
Klinge der Hellebarde schimmerte golden. Solche Männer waren ihm als
Meldereiter und als niemals müde Nachtwachen bekannt. Er sah am
Gang, an der Haltung, an der Körperlänge und an den geschmeidigen,
fast etwas wolfsähnlichen Bewegungen, dass er es hier, wie bei so
vielen Wachsoldaten, mit Thieren Gottes zu tun hatte. Auch ihr leicht
arroganter Blick verriet sie. Schon als er zum ersten Mal an seinem
neuen Arbeitsplatz erschienen war, bemerkte er, wer die waren, die
nun auch ihn beschützen würden.
Als
er an seinem zweiten Diensttag erschien und die Stufen zum Rathaustor
hinaufschritt, erregte er unerwartete Aufmerksamkeit: Der Wachmann
links vom Tor verschlang Hieronymus mit Blicken und starrte ihn an,
als sei sein Heiland erschienen. Er straffte seine Haltung, als der
Schreiber an ihm vorbeiging, sog die Luft ein und grüßte den
Vorbeigehenden militärisch. Fast wäre Hieronymus auf der Schwelle
gestolpert. Mit einer kleinen Geste erwiderte er die Ehrbezeugung,
während der andere Wachmann, der reglos dagestanden hatte wie eine
Statue, nun hastig die Bewegung seines Kameraden nachmachte.
Hieronymus
begab sich in das Vorzimmer seines neuen Dienstherren und nahm vom
Sekretär das Portfolio entgegen, das die zu kopierenden Dokumente
enthielt. Manchen waren Notizen beigefügt, sie betrafen das
gewünschte Material, Papier oder Pergament, entschieden über das zu
setzende Siegel, gaben an, ob die Überschriften, Initialen und
Rubriken mit roter Tinte gehöht werden sollten. Das Portfolio war
schön mit Punzen und ins Leder geschnittenen Ranken geziert, wenn
sich auch die Säume etwas zu lösen begannen.
Er
nahm Platz an seinem Schreibtisch, den eins der hohen, spitzen
Rathausfenster von links beleuchtete, und legte die Federn, das
Federmesser, die Streusandbüchse, Schwämmchen und Probeblätter
zurecht. Am gestrigen Nachmittag war er den übrigen Mitarbeitern des
Bureaus vorgestellt worden und hatte einen Amtseid zur
Verschwiegenheit geleistet.
Er
machte sich mit großem Eifer an die Arbeit und schrieb als ersten
Brief eine höfliche Absage an den Kommandanten einer Stadt, die mit
Reval locker assoziiert war, nämlich Weliki Nowgorod in
Nordrussland. Dieser Brief wurde absichtsvoll nicht gleich ins
Russische übersetzt, das sei zu viel der Verbeugungen vor einer
Stadt mit zwielichtigen Absichten. Zwar sei sie verbündet mit
Schweden, aber doch ein unsicherer Genosse, so wurde angedeutet.
Nichtsdestoweniger durfte Lohebrannt seine schönsten Schwünge
ziehen. Die Bitte um Ausleihe einiger wichtiger Druckwerke und
Handschriften wurde mit vielen Bitten um Verständnis ausgeschlagen,
denn durch den Krieg sei selbst die vom König Gustav Adolf
gegründete Universität Dorpat beraubt worden, somit könne man
leider auf kein Stück verzichten. Die Kopierarbeiten seien in vollem
Gange, so dass Hoffnung sei, dereinst doch das eine oder andere Werk
zur Verfügung zu stellen.
In
der Antwort erhoffe sich das Gouvernement in Reval einige Auskünfte
über den Verbleib von Leihstücken, insbesondere die Ikonenliste des
Klosters Petseri, sowie einen Band der Weltchronik, eine Mappe
‚Topographia Germaniae‘ mit Ansichten von Reval, Nöteborg,
Nyenschanz, Nowgorod und Kiew, sämtlich von Merian gestochen, sowie
eine Kopie von Vitruvs ‚Architectura’ , Band 8,
‚Wasserversorgung‘.
Hieronymus
grinste beim Schreiben. Der Gouverneur beschuldigte also die Russen
unverhohlen des Diebstahls. Oxenstiernas Sekretär hatte das auch
bemerkt und in seiner Hasenfüßigkeit noch eine kurze Notiz
beigefügt: »Schärfste Formulierungen bitte abschwächen.«
Das
allerdings erschien Hieronymus als unerlaubter Eingriff in die Hoheit
des Gouverneurs als Autor. Einzig den Satz »… solltet Ihr die
betreffenden Bücher inzwischen versetzt haben...« wandelte er ab zu
»verlegt haben«.
Oxenstierna
überflog die Abschrift, grinste bei dem abgeänderten Satz und
unterzeichnete und siegelte. Dabei fiel ihm die Notiz seines
Sekretärs in die Hände, die Hieronymus erst einmal in das
Portefeuille geschoben hatte. Er tauschte einen Blick mit Hieronymus,
der stammelte »oh, das war ein Versehen, das gehörte nicht...«
Der
Gouverneur lehnte sich zurück. Er schwieg dazu.
»Macht
eine Pause, Lohebrannt, Ihr habt noch nicht zu Mittag gegessen«,
sagte er dann, »Euer Amt berechtigt Euch zu einem warmen Mahl im
Moritzhaus.«
Hieronymus
zog sich zurück und machte sich auf den Weg zum Mittagslokal. Vor
dem Rathaus stand unverdrossen das Paar von Wachen. Die Haltung des
links stehenden Mannes war anmutig, ein klassischer Kontrapost, ganz
wie Michelangelos David, ebenfalls mit aufmerksamem Blick, und statt
der Steinschleuder hielt er die Hellebarde. Hieronymus ertappte sich
dabei, dass er den weiten Fall der Beinkleider bedauerte. Sie
verhüllten gar so viel vom Körper. Was gäbe er darum, den
zweifellos hübschen Arsch darunter zu sehen? Das Wams wiederum war
annähernd zeltförmig, einigermaßen steif und verbarg den Rest des
Rumpfes. Wie hielt er das in der heißen Sonne aus?
Er
erinnerte sich an Stiche, die die Landsknechte vor hundert Jahren
darstellten. Wir bezaubernd schamlos waren die doch. Man trug damals
nicht die Pluderhosen wie jetzt, die wie tragbare Sittenpredigten
aussahen. Und gar die Braguette, die Brokathülle, die die
Männlichkeit weniger verhüllte, als vielmehr protzend andeutete,
schien in diesem Jahrhundert eine Todsünde zu sein. Die Renaissance
war schon gestorben.
Das
waren die Gedanken, als er nah an ihm vorbeiging. Wieder straffte
sich die Haltung des Mannes, wieder grüßte er, wie Hieronymus im
Augenwinkel sah. Er hätte sich umdrehen müssen, um seinen Blick zu
erwidern. Aber ihm schien, als ihn hinter sich ließ, als werde er
umarmt, als strecke dieser Mann sich nach ihm aus und zöge ihn an
sich. Lohebrannt sprang die letzte Stufe hinab, um nicht zu stolpern.
Es war ihm peinlich. Er versammelte seine Würde neu und schritt über
den Platz in Richtung der Langstraße, um im Moritzhaus sein
Mittagsmahl einzunehmen.
Als
er nach dem Essen zum Rathaus zurückkehrte, standen zwei andere
Wachen vor dem Eingang, dieses Mal keine Thiere. Er fühlte einen
leichten Stich der Enttäuschung.
Seinen
Kollegen, den Sekretär, vermisste er auch und fragte die Kollegen
nach ihm. Er erfuhr, dass dieser auf das Schloss versetzt sei und
Lohebrannt seinen Tisch einnehmen solle.
Der Mann auf dem Wehrgang
Hieronymus
begegnete Fido zum dritten Mal am Abend einer stickigen Sommernacht,
als ihn Schlaflosigkeit aus dem Bett trieb und er ein wenig frische
Luft brauchte. Die Mauern der Stadt heizten sich auf und machten
seinen im Oberstock liegenden Raum zum Backofen. Hieronymus war auch
geistig nicht zur Ruhe gekommen, denn die Korrespondenz, an der er
arbeitete, war nicht eben von beruhigender Wirkung. Es war eine
Antwort des Gouverneurs auf die recht unhöflichen Drohungen des
Zaren, die auch die Forderung enthielten, die Burg Iwangorod in Narwa
an die Russen zurückzugeben
Ein
wenig Ruhe und Kühle fand der Schreiber auf einer Steinbank im Turm
an der Nordseite der Stadt. Hier hatte die Sonne ihre glühende Hand
nicht auflegen können. Hieronymus hatte einen leichten Stoffmantel
über Wams, Hemd und Kniehose gelegt, der mit seiner Schwärze dafür
sorgte, dass der Spaziergänger nicht auffiel. Auch konnte er den
kurzen Degen darunter verbergen, denn immer noch waren die Zeiten so
unruhig, dass jeder Bürger sich schützte. Er hatte sich einen
leichten Stoffbeutel mit seiner silbernen Wasserflasche umgehängt,
wie es im Sommer seine Gewohnheit war.
Über
Hieronymus zog sich der hölzerne Wehrgang an der Stadtmauer entlang,
und ruhige Schritte verrieten die Anwesenheit einer Wache. Es war so
still, dass Hieronymus ihn singen hörte. Die Stimme ließ ihm einen
leisen Schauer über den Rücken laufen. So warm und zugleich
fremdartig war sie, dass Sehnsüchte in ihm wach wurden, die er seit
seinen Jünglingstagen bekämpfte.
Verlangen
sucht sich Gründe. Hieronymus verstand, dass diese Wache sicherlich
Durst haben musste. Als Heiliges Biest litt er doch noch mehr unter
der Hitze als die wahren Menschen. Christliche Nächstenliebe
verlangte, dass er dem armen Kerl dort oben einen Trunk anbot. Er
stieg langsam und unter Widerwillen gegen seine eigene Albernheit die
hölzerne Stiege hinauf und erreichte mit etwas hörbarem Atem den
Wehrgang.
Der
Wächter war tatsächlich derselbe, der am Tag das Rathaustor
bewachte. Er stand ruhig, fest, aber unverkrampft, eine Hellebarde in
der Linken, den Bogen über der Schulter. Er lächelte, und sein
Zähne blitzten ein wenig im Mondlicht auf. Dieses Mal schnellte
seine Hand nicht zum Helm.
Seine
Haare waren dicht und lang, wie lang, das konnte man nicht sehen, da
er sie mit einem farbigen Band im Nacken zu einem Knoten
zusammenfasste. »Bürger, was führt Euch zu mir?« fragte er
freundlich und ein wenig heiter. Hieronymus entkorkte seine Flasche
und ließ sie dabei fast fallen; der Wächter reagierte mit einem
blitzschnellen Reflex und hätte sie gefangen.
»Es
ist heiß, ich möchte Euch einen Trunk anbieten«, stammelte
Hieronymus und hätte sich selber in den Allerwertesten treten mögen.
Eine
lange, schmale, wunderschöne Hand kam aus dem Schatten und umschloss
die silberne Flasche. Der Mann setzte sie an und trank ein paar
Schlucke, maßvoll, nicht gierig.
»Danke,
das tut gut«, sagte er dann.
Keine
Fragen, keine Umständlichkeit; er gab ihm das Gefühl, es sei so
natürlich zwischen ihnen, als seien sie Brüder, dass einer dem
anderen einen Trunk reichte.
Hieronymus
war verloren.
»Es
ist gar schwer, den Dienst zu tun, wenn man in die Tracht der Garde
gezwängt ist, wie stolz ich auch darauf bin!« bemerkte die Wache,
»aber ich bin dem schwedischen Gouverneur treu ergeben, und so heiße
ich auch: Fido.«
So,
da bot er ihm schlicht den Kontakt an, so schlicht, dass dem Älteren
die Luft wegblieb. Und er kam auch gar nicht auf die Idee, diese
Mitteilung mit dem eigenen Namen zu beantworten, bis Fido ihn fragte:
»Und mit wem habe ich die Ehre?«
»Hieronymus
Lohebrannt, Sekretär Seiner Exzellenz des Generalgouverneurs Gustaf
Oxenstierna.«
»So
habt Ihr sicher eine bezaubernde Handschrift«, vermutete Fido, und
tatsächlich war Hieronymus besonders stolz auf seine
kalligraphischen Fähigkeiten.
Fido
seufzte. »Dieses Wams bringt mich um, aber die Ordnung ist
unumstößlich.« Und er nahm wieder die straffe, gerade Haltung ein.
Von
der nahen Olafskirche schlug es halb eins.
»Verzeiht,
lieber Herr, ich muss meine Runde gehen«, entschuldigte sich Fido,
und Hieronymus zuckte zusammen. »Oh, bitte, lasst Euch nicht von mir
in Euren Pflichten stören!« versicherte er eilig und steckte seine
Flasche ein. Er drehte sich um und bemühte sich, einigermaßen
würdevoll die etwas schwankende, steile Treppe hinabzusteigen.
»Werdet
Ihr mir wieder einen Trunk spenden?« hörte der Fido hinter sich.
»Gewiss!
Aber dann wird es Wein sein, Bier, Sherry, was immer Ihr wollt...«
Fido
schien ein wenig zu lachen.
»Ihr
wisst nicht, dass wir Thiere nur Wasser saufen?«
»Aber
doch Wasser aus kristallenem Glase, schön kühl? Das ist meine
Einladung. Ich nenne euch rasch meine Adresse...«
Er
machte kehrt und stieg zwei Stufen wieder hinauf, während sich Fido
bereits entfernte.
»Ihr
wart heute im Rathaus. Ich finde Euch!« rief Fido und rauschte durch
das Tor in den Turm.
Hieronymus
stieg mit den seltsamsten Gefühlen die Treppe hinab und wanderte in
einem eigenartigen Traumzustand zu seiner Wohnung zurück. Kaum, dass
er noch wusste, wie er aus den Kleidern gekommen war, und die leichte
Decke umarmte ihn – wie ihm schien – liebevoll und hieß ihn zu
einem traumlosen Schlaf willkommen, den nichts mehr störte.
Es
wunderte ihn am anderen Morgen, wie tief und ununterbrochen sein
Schlaf gewesen war. Denn nach dieser Begegnung hatte er auf den
Heimweg noch gegrübelt, wie es seine Art war, und das tat er oft
auch beim Einschlafen, und wenn der Gegenstand seiner Gedanken
beunruhigend war, half ihm das natürlich nicht über die Schwelle
zum Reich der Träume. Doch war dieses Grübeln erhebender Natur und
freudevoll; auch fragte er sich, wie Fido ihn wohl finden solle.
Und
war dieser Fido wohl wirklich ein Heiliges Biest? Er sah aus wie
einer von ihnen, auch war seine Hand, die Hieronymus kurz bei der
Übergabe der Flasche gefühlt hatte, so warm gewesen, wie man es von
ihnen kannte. Er war sehr groß und einigermaßen athletisch gebaut,
besaß perfekte Zähne – sagte man nicht, sie wüchsen nach? –,
und der federnde, fast lautlose Schritt passte ebenfalls dazu. Es gab
auch Gerüchte, sie atmeten eine Art Schlafdunst aus, wie man es von
Opiumrauch kannte. Das mochte erklären, dass Hieronymus trotz dieser
aufregenden Begegnung sofort Ruhe gefunden hatte.
Während
Hieronymus sein Waschgeschirr benutzte, ließ das Gefühl freudiger
Erregung nicht nach. Er genoss die Kühle des Wassers, das die Frau
des Hauskerls morgens bereitstellte. Im Winter wurde ein großer
Samowar im Unterstock beheizt, von dem sich die Mieter heißes Wasser
holen konnten. Einmal in der Woche besuchte er die Sauna des Hauses
im Hofgebäude, die den Bewohnern zur Verfügung stand.
Die
Begegnung mit Fido erfüllte alle seine Gedanken. Wenn er sich zu ihm
hingezogen fühlte, so war das weit mehr als die vielen
Freundschaften, die er in der Vergangenheit geschlossen. Er wusste,
dass es Männer gab, die beieinander mehr als Freundschaft suchten,
vor allem die Thiere hatten diesen Ruf, aber er hielt sich von
solchen fern. Es war ihm nicht neu, dass schöne Körper von Männern
ihn mehr anzogen als die von Frauen, dennoch, um nicht der Sünde zu
verfallen, versuchte er, sich die Liebe mit Frauen vorzustellen und
verscheuchte Gedanken an breite Schultern und pralle Hoden. Die
Kameraden machten spöttische Bemerkungen, hatten weit weniger
Hemmungen – und in der Folge weit mehr Probleme, die einen damit,
sich und ihre Liebe zu verbergen, die anderen mit Krankheiten. Und es
konnte auch beides sein.
Aber
das betraf nicht diesen Mann. Es würde nichts vorfallen zwischen
ihnen, sie standen im Dienst der Regierung, sie würden vielleicht
Freunde werden, doch Sittlichkeit und Disziplin würden ihm eine
Rüstung sein, die jegliche ungehörigen Vorkommnisse abwehrte.
Hieronymus
kleidete sich an, schenkte seinem Spiegel heute etwas mehr Beachtung,
summte vor sich hin und begab sich in den Speisesaal des Wohnheims.
Es wurde von einem prächtigen Portal und einigen Reliefs auf der
Fassade geziert. An den Beischlägen saßen weitere Wappen und
Ornamente, über dem Portal flankierten zwei Löwen das Hauszeichen,
den Heiligen St. Mauritius, woher die geläufige Bezeichnung
’Moritzhaus‘ für diese Unterkunft stammte.
»Lohebrannt,
frühstückt mit uns!« Hieronymus war kein Kaufmann, aber als
Archivar und Schreiber war er willkommen.
Ein
junger Tuchhändler aus den Niederlanden, Jan, winkte Hieronymus zu,
er solle sich zu seinen Kumpanen setzen. Es mochten wohl acht oder
neun Männer an diesem Tisch versammelt sein, und sie löffelten
fleißig ihren Haferbrei und nahmen kräftige Schlucke vom heißen
Morgenbier. Auch sie waren durchweg jünger. Ein Neuankömmling war
bei ihnen, Cyprian hieß er, und Jan stellte ihn vor und fuhr fort:
»Kollege, das ist der begabte Schreiber, den wir oft belästigen,
damit er uns einen schönen Kopf für unsere Contracte schreibt, und
wenn wir ihn so betrunken machen, dass er keinen Widerstand leistet,
so schreibt er uns den ganzen Contract!«
Lärmendes
Gelächter erhob sich.
»Cyprian«,
so erzählte Jan, »ist schon verlobt, und er will wieder nach Brügge
zurückfahren, wenn er den Kaufpreis für ein Haus dort
zusammengespart hat.«
»Ihr
reist aber doch nicht mit der Barschaft?« fragte er vorsichtig, aber
der junge Mann erklärte, er sei klug genug, seine Gelder über die
Bank zu transferieren. Und er schwärmte von seiner Braut und den
Aussichten, die der Eintritt ins Geschäft ihres Vaters ihm bot.
Hieronymus
hörte nur mit halbem Ohr hin. Im Speisesaal hatten sich auch ein
paar weitere Bewohner eingefunden. Diese saßen meist allein oder zu
zweit. Sie hatten kein Interesse an einem Familienleben, hatten aber
in diesem evangelischen Land nicht die Möglichkeit, in ein Kloster
einzutreten.
Von
ihnen verstanden zu werden war einer der wichtigsten Gründe, warum
Hieronymus sich in diesem Haus wohlfühlte. Das waren eher die
Älteren, die unter sich blieben oder allein, wie es Hieronymus
meistens auch tat. Denn sie teilten ein Geheimnis, das die Jüngeren
nicht ahnten, sie strebten nicht nach weiblicher Gesellschaft, und um
frei zu bleiben von Sünde, hielten sie sich auf Abstand und gingen
ein wenig steif und formell, aber freundlich und in stummem
Einvernehmen miteinander um. Ihre Umgangsformen waren geschliffen,
ihre Wortwahl immer höflich, wenn auch bisweilen ein wenig
sarkastisch.
Heute
aber saß Hieronymus bei den jungen Leuten, die ihn nach seinen
Reisen und seinen Kämpfen ausfragten. Nun lauschte er nicht mehr so
halb auf die kleinen Geplänkel am Nachbartisch, sondern ging auf das
Gespräch ein. Er erzählte von den Kriegszügen, an denen er
teilgenommen hatte.
»Was
für ein Wunder, dass Ihr das heil überstanden habt!« staunte
Cyprian, »wurdet Ihr nie verwundet?«
»In
jungen Jahren war ich in Schlachten verwickelt, immer auf Seiten der
Schweden und anderer protestantischer Verbündeter. Dann traf mich
eine Kugel ins Bein, und als ich genesen war, taugte ich nicht mehr
für lange Fußmärsche, sondern ich wurde Schreiber im Kontor eines
Kaufmanns, so dass ich Schriftstücke für die Handelsfahrten
ausfertigte.«
Und
er beschrieb den staunenden jungen Leuten, welche Herrlichkeiten er
gesehen, bevor Brandschatzung die Städte vernichtet und entstellt
hatte. Sie wurden recht still, und das Gelächter erstarb.
»Doch
Ihr seid bei uns, und das ist schön«, sprach einer der jungen
Kaufleute, »ich habe so wenige Männer mit allen Gliedern aus dem
Krieg zurückkehren sehen, und so wenige, die etwas hatten, das eine
Rückkehr wert war.«
»Vielleicht
wurde ich beschützt«, murmelte Hieronymus vage. »Ja, mit Gottes
Hilfe mag das geschehen sein«, stimmte ihm Cyprian zu, aber ein
anderer junger Mann, den die anderen ‚Dima‘ nannten, der bislang
nur mit den Augen der Unterhaltung gefolgt war, während er weiter
seinen Brei löffelte, legte nun den Löffel beiseite und schüttelte
den Kopf. »Das hat allzu vielen nicht genügen können, der
Allmächtige hat uns nur sehr unzureichend bewahrt.«
Die
anderen schauten ihn missbilligend an.
»Schutz
war nicht der Himmel, sondern Eisen«, fuhr der rebellische Junge
fort, »und ich vermute, Ihr standet in der Huld von Thieren Gottes,
wie man sie irrtümlich nennt, denn sie sind nur Thiere, die vorher
riechen, wo es brennen wird, und Euch von dort fortführten.«
»Sollte
es so gewesen sein, war ich mir dessen nicht bewusst«, entgegnete
Hieronymus und sah den Sprecher direkt an. Der hatte so ein seltsames
Funkeln in den Augen.
Bevor
Hieronymus aber zu einem Schluss kam, was dieser Mann dachte, wollte
und bezweckte, fühlte er eine warme Hand auf seiner Schulter und sah
zugleich, wie alle am Tisch Sitzenden auf jemanden starrten, der
hinter Hieronymus stand.
»Auf
ein Wort, mein Herr Scriptor!« hörte er eine tiefe, klangvolle
Stimme hinter sich. Er wandte sich um, soweit es der hochlehnige
Stuhl erlaubte. Mit blitzender Hellebarde und wehender Helmzier stand
der Stadtwächter hinter ihm, eben seine neue Bekanntschaft vom
gestrigen Tag.
Einer
solchen Einladung verweigerte man sich nicht. Die jungen Kaufleute
schauten ein wenig bestürzt, geradeso, als werde er verhaftet. Die
Kollegen vom Tisch der Hagestolze hingegen blickten vergnügt und
gespannt herüber, nicht eben so, als drohe Hieronymus Gefahr,
sondern, ganz im Gegenteil, eine besondere Gunst. Ein wenig
schwankend vor Aufregung erhob er sich und schritt hinter dem
Wachmann hinaus.
Ein
paar Schritte weiter, wo man sie aus dem Fenster des Pensionshauses
nicht sehen konnte, blieb Fido mit einer graziösen Bewegung stehen,
die seinen Überwurf schwingen ließ.
»Ich
schulde Euch einen Gefallen«, begann er, »da Ihr so freundlich
wart, meinen Durst zu stillen. Jetzt warne ich Euch vor einer Gefahr.
Ihr wart so klug, ausweichend zu antworten. Aber dieser Jüngling ist
einer derer, die Freunde der Thiere Gottes jagen. Er wollte von Euch
hören, ob Ihr Euch unter den Schutz der Thiere gestellt habt, und an
die Thiere selber wagen sie sich nicht heran. Sie nennen sich
»Tschistije«, das heißt, »die Sauberen«, und werden von der
russischen Kirche unterstützt. Ich kenne den Knaben, er spioniert
unsere Freunde recht geschickt aus, um sie dann mit seiner Rotte zu
überfallen und zu verprügeln. Gerade so, als hätte dieser unselige
Krieg nicht schon genug Opfer gekostet.«
»Weiß
er denn, dass Ihr auch zu ihnen gehört, den…«
Hieronymus
zögerte. »… Thieren Gottes? Ja, das weiß er, und darum müssen
wir ein wenig Theater spielen, damit er nicht mitbekommt, dass es
zwischen uns eine Sympathie gibt. Wenn ich Euch jetzt ein wenig rauh
behandle, so denkt daran, dass es zu Eurem Schutz ist.«
Er
schob Hieronymus, der deutlich kleiner war, unsanft zur Tür hinein,
führte ihn zu seinem Platz und drückte ihn – eher, schubste ihn –
auf seinen Stuhl.
»Ich
habe Euch gewarnt!« knurrte er, »und dieses Mal lasse ich Euch
gehen.«
Damit
wandte er sich um und bewegte sich auf die Tür zu. Noch einmal
drehte er sich zu Hieronymus.
»Und
vergesst nicht: Ich finde Euch, wo Ihr auch seid.«
‚Wie
tröstlich!‘ dachte Hieronymus.
Und
noch etwas bemerkte er. Der Griff an seinem Arm, die tiefe,
klangvolle Stimme des Wächters, seine große, breitschultrige
Gestalt, sein Duft, ja, selbst seine Ruppigkeit berührten den
einsamen Schreiber und füllten ihn mit Sehnsucht. Sogar sein Schoß
erwärmte sich, und das Organ darin entfaltete sich zu peinlicher
Größe, die zum Glück seine Tracht verbergen konnte. Er wünschte,
dieser Mann würde ihn Tag und Nacht auf diese Weise umherschieben,
mit knurrigen Befehlen und warmer Hand und mit dem Atem in seinem
Nacken.
Wenige
Sekunden nur, und er saß allein am Tisch; die jungen Kaufleute
gingen an ihre Pflichten und grüßten ihn kurz und sichtlich
verlegen. Die Legende vom Schutz durch die Thiere Gottes war ja nun
abgetan, stattdessen schien es, der Schreiber habe etwas
ausgefressen. Eine Kleinigkeit zwar. Doch wirkte Hieronymus so ganz
und gar nicht wie einer, der Streiche ausheckt, die die Stadtwache
ahndet.
Er
warf einen flüchtigen Blick zu dem Tisch mit den Junggesellen. Sie
fixierten ihn, wie ihm schien, amüsiert.
Ein
wenig verärgert dachte Hieronymus darüber nach, was man nun wohl
von ihm hielt. Hatte der Wächter seinen Ruf angekratzt?
Einer
der Herren am anderen Tisch gab ihm ein kleines Zeichen. Sie waren
nun im Frühstücksraum allein. Die Magd, die das Geschirr abgeräumt,
wirtschaftete nebenan und plauderte mit der Köchin.
Hieronymus
zögerte, sich zu den fremden Herren an den Tisch zu setzen. Näherte
sich aber doch den anderen.
»Ihr
seid ein Schreiber des Stadtkommandanten, nicht wahr?« begann einer
der Männer.
Hieronymus
setzte sich auf den freien Stuhl, wie die Handbewegung andeutete.
»Das ist richtig, zu Diensten, mein Herr. Ich schreibe auch für
Handelsherren.«
»Schön.
Und die Gunst unseres Wachmannes habt Ihr auch schon gewonnen«,
grinste einer der Junggesellen.
»Was
sagt Ihr da?« Hieronymus zog die Augenbrauen hoch. Musste er sich
nicht auch hier vorsehen? Doch das Lächeln dieser Männer war
verständnisvoll.
»Hat
er Euch vor Dima gewarnt?« fragte der Dritte.
Hieronymus
wagte nicht zu antworten. Auch dies konnte eine Falle sein.
»Er
hat recht daran getan«, fuhr der erste der Drei fort, »denn diese
Knüppelfürsten fallen gern über solche her, die ein Herz für die
Thiere Gottes haben. An sie selber trauen sie sich nicht heran, die
Feiglinge. Sie wissen, wie wach und schnell unsere Garde ist. Solche
wie Ihr, Herr, sind schon eher Beute für diese Jäger.«
Der
Zweite der Drei dämpfte seine Stimme, obwohl die klappernden
Frauenzimmer in der Küche sie sicherlich nicht hören konnte.
»Scheut
Euch nicht, den Wächter zu Eurem Freund zu machen!«
»Warum
glaubt Ihr, ich wollte das tun?«
Die
Drei lachten verhalten.
»Er
hat an Euch Gefallen gefunden, das sieht ein Blinder. Spaziert heute
Abend unter dem Wehrgang, nicht lange vor der Ablösung bei Schlag
Zwölf. Ihr werdet seine Stimme schon hören. Und nun ruft uns das
Kontor.«
Sie
erhoben sich, nickten Hieronymus freundlich zu, und auch der
erinnerte sich, dass die Glocke von St. Olaf ihm die Bürostunde
verkündet hatte. So begab er sich zügig, aber nicht zu eilig, zum
Rathaus, vorbei am Kaufmannshaus am Alten Markt, wo bereits Säcke
und Körbe an den Winden zu den Speichern schwebten und Kutscher ihre
Pferde beim Halfter hielten. Im Rathaus stieg er zu den Amtsstuben
hinauf und suchte seinen Platz auf, wo schon zu kopierende Dokumente
lagen und der Bürovorsteher ihm einen missbilligenden Blick wegen
seiner Verspätung zuwarf. Doch wagte er dem Schreiber des
Gouverneurs keinen Tadel auszusprechen.
Die
Residenz des Gouverneurs lag eigentlich in der Oberstadt, wo der Adel
seine Sitze und seine eigene Kirche, den Dom, hatte. Doch fand der
Vizekönig der Schweden es praktischer, eine Amtsstube zu benutzen,
die mit der Verwaltung in direktem Kontakt stand. Hier war er nah am
Volk, am Markt, an der Wachstube und auch nicht weit vom Hafen
entfernt. Er hörte Gerüchte schon lange, bevor seine Beamten sie
ihm berichteten.
Es
fiel Hieronymus schwer, sich zu konzentrieren. Und es fiel ihm noch
schwerer, als das Licht verging und er seine Schreibwerkzeuge
einpackte und er hinunter auf den Rathausplatz sah, wo eben die
Wachen für die Acht-Uhr-Schicht ausrückten und sich zu ihren
Plätzen auf dem Wehrgang begaben. Fido musste dabei sein, aber von
hier oben war er nicht zu erkennen. Der Größte vielleicht? Aber es
waren einige lange Burschen dabei. Die Helme ließen von hier oben
die Gesichter nicht erkennen, und die blaugelbe Tracht der im Sold
der Schweden Stehenden machte sie gleich.
Bevor
auffiel, dass er hinausstarrte, riss er sich zusammen, schloss
Tintenfass und Sandbüchse und rollte und verschnürte die Dokumente,
die noch zu bearbeiten waren.
Es
würde noch dauern, bis es dunkelte. Nicht einmal die Mitternacht
würde ganz finster sein. Hieronymus kam das immer noch wie ein
Wunder vor, dabei war er doch nun seit einigen Jahren in diesen
nördlichen Breiten. Und wie schwer zu ertragen die langen
Winternächte waren! Im Sommer schlief er kaum, das Licht war
berauschend.
Noch
waren die Dächer in Sonnenlicht getaucht, als er zufrieden in sein
Quartier heimkehrte. Wie auch das Mittagsmahl, würde er nun sein
Abendessen im Moritzhaus zu sich nehmen. Er setzte sich bewusst so
hinter eine Säule, dass er die Eintretenden sah, bevor er selber
entdeckt war. Ihm war nicht danach, dass dieser Dima wieder anfing,
ihn auszufragen.
Er
aß seine Kohlpirogge mit Wohlgefallen. Die Junggesellen grüßten
ihn durch Kopfnicken und beziehungsreiches Augenrollen. Sollen sie.
Heute würden sie ihn nicht zum Brettspiel einladen. Er verließ den
Speisesaal früher als sonst und zog sich in sein Zimmer zurück.
Kaum merklich dunkelte es. Er beschloss, sich selber eine Kerze zu
spendieren, um die Stunden bis halb zwölf nützlich hinzubringen.
Oder sollte er ein wenig schlafen? Aber dann würde er das
Stelldichein verpassen.
Er
erfrischte sich am Waschtisch und legte ein reines Hemd an. Es trug
den kleinen Luxus eines schmalen Spitzenrandes. Dann schenkte er sich
ein halbes Glas bernsteinfarbenen Südwein ein, um das Flattern in
seiner Magengegend zu beruhigen. Bis er gehen wollte, las er noch ein
paar Seiten in einem italienischen Roman mit dem Titel
»Hypnerotomachia Polyphilii«, »Polyphil sucht die Liebe im Traum«,
den er seit Jahren mit sich herumtrug. Dieser war voller Anspielungen
auf antike Mythen, die man in der Renaissance so prächtig
wiederaufleben ließ, und es machte ihm Vergnügen, gebildete Rätsel
zu lösen.
Als
es halb zwölf vom Turm der St. Olafskirche schlug, nahm Hieronymus
seinen Überwurf vom Haken, versäumte auch nicht, seine silberne
Trinkflasche neu zu füllen; seine Aufregung steigerte sich ins
Unerträgliche, und er dachte daran, Zuflucht zum Gebet zu nehmen;
wenn er aber nun drauf und dran war zu sündigen, was sollte er da
beten? Dass die Versuchung an ihm vorbeigehen möge? Das konnte er
nicht.
Bis
zum Wehrgang, wo er Fido beim ersten Mal getroffen hatte, waren es
ein kurzer Fußweg durch die Pferdekopfgasse, dann durch die Große
Klostergasse zum Westtor. Noch war die Schicht nicht beendet.
Hieronymus setzte sich auf ein niedriges Mäuerchen und schaute zum
Wehrgang hinauf. Er hatte etwa eine Viertelstunde beobachtet, wie
eine dunkle Gestalt über den hölzernen Gang patrouillierte. Dann
erscholl der Ruf: »Aaach-tung!« Der Kommandant beendete die
Schicht, die Ablösung rückte an. Der Ruf erscholl: »Erste Wache
tritt ab!« Und gleich darauf die Antwort: »Zweite Wache tritt an!«
Dann kamen sie geräuschvoll über die eichenen Stufen herab und
nahmen Kurs auf ihr Wohnquartier an der Rußstraße, in einem
ehemaligen Nebengebäudes des Klosters, das in der Reformation
zerstört worden war und seit hundert Jahren einfachsten Zwecken
diente.
Ein
Mann löste sich aus der Gruppe und kam langsam auf Hieronymus zu,
fast zögerlich, so als wollte er nicht den Blick auf ihn lenken.
»Ihr
seid hier! Wie schön! Ich habe gehofft, Ihr kommt!« sagte er leise.
Hieronymus fand einen Augenblick keine Worte, so sehr überraschte
ihn diese Begrüßung. Er schaute sich um; noch immer war es nicht
ganz dunkel, und das würde es in dieser Nacht auch nicht werden. Er
stammelte irgend etwas, das ebenfalls seine Freude über das Treffen
ausdrücken sollte.
Fido
legte ihm den Arm um die Schulter.
»Wohin
gehen wir?« wollte Hieronymus wissen.
»Zu
meiner Familie«, entgegnete Fido.
Der
Weg führte sie vom Wehrgang zur Vorstadt. Rechts von ihnen ragten
die Masten der Schiffe im Hafen auf. Durch Gärten, vorbei an
Einzelhäusern, ging es in Richtung des Meeres. Dies war das eher
ärmliche Viertel der Fischer und der Räucherhütten und Salzfässer.
Hier wurde Fisch getrocknet und zum Versand gebündelt. Man roch es.
Abseits
von den Fischhäusern wanderten sie auf ein vereinzelt stehendes
großes Holzhaus zu, das schon nah am Wasser lag. Dort waren noch ein
paar Handwerker am Arbeiten, die das letzte Licht nutzten, so schwach
es auch war. Einer spaltete Holz für den Herd, ein anderer schnitzte
etwas, auch mehr ahnend als sehend, was er tat. Als sie die
Ankommenden erblickten, standen sie auf und gingen auf sie zu.
Hieronymus blieb einen Schritt zurück, aber Fido legte von neuem
seinen Arm um die Schulter seines neuen Freundes. »Dies ist Raptor
Noctis, der kleine Bruder meines Vaters, und mein Gefährte
Belliabdico.«
Hieronymus
war verwirrt, natürlich verstand er sofort die Bedeutung dieser
quasi lateinischen Namen – ‚ärgstes Küchenlatein‘, dachte er
bei sich – denn der ‚Nachträuber‘ und der ‚dem Krieg
Entsagende‘ ließen ihn zu keinem Schluss kommen, ob er es mit
einer wilden Horde oder friedliebenden Philosophen zu tun hätte.
Noch verwirrter war er, als Raptor Noctis auf Fido zutrat, ihm die
Hand um den Nacken legte und ihn zu einem zärtlichen Kuss an sich
zog, was sage ich, zärtlich? Das war ein inniges Verschmelzen,
Lippen auf Lippen, eine kleine, hervorblitzende Zungenspitze, ein
Kuss wie solche, bei denen selbst Verlobte sich nicht gern hätten
ertappen lassen. Und zugleich streckte Belliabdico seinen Arm nach
Hieronymus aus und schien ihn ebenso begrüßen zu wollen. Hieronymus
wich ein paar Zoll zurück und fürchtete zugleich, den anderen zu
beleidigen.
Ohne
den Kuss zu unterbrechen, streckte Fido seinen Arm aus und legte ihn
an die Wange von Belliabdico. Sperrte ihm zugleich aber auch den Weg
zu Hieronymus ab.
»Ah,
er kennt uns noch nicht?« murmelte Belliabdico.
Hieronymus
war immer noch verwirrt von dem Anblick, dass ein Onkel so seinen
Neffen küsste. Raptor Noctis war selbst für ein Thier sehr groß;
seine Züge wirkten wild und animalisch, die Augen asymmetrisch, ein
wenig eng stehend. Eine Adlernase und ein beinahe zu kräftiges Kinn,
das er ein wenig vorschob, wirkten wehrhaft und eigensinnig. Er trug
ein Tuch, zum Turban gewunden, mit Federn darin, sein Oberkörper war
frei, vom Gürtel abwärts bis zu den Stiefeln verhüllte ihn ein
üppig gefaltetes, mit Zickzackmustern geschmücktes Leinentuch.
Belliabdico war etwas kleiner, zierlicher, sehr sehnig, in gleicher
Weise gekleidet wie der Nachträuber. Seine Haare waren in mehrere
Zöpfe geflochten und, anders als die von Raptor, fielen sie ihm auf
die Schultern. Seine Ohren waren mehrfach durchstochen und mit drei
Paar Ringen geschmückt. Statt eines Tuchs um die Hüften trug er
weite, verschossene Beinkleider nach Art der Landsknechte.
Inzwischen
waren die beiden anderen mit ihrer Begrüßung fertig. Nun stellte er
seinen Freunden den Schreiber vor und wusste sogar seinen Nachnamen.
Raptor und Belli wurden die anderen kurz genannt. Hieronymus nahm
kaum wahr, wie Fido ihn ins Haus führte, so viel gab es zu sehen.
Hier waren noch weitere Bewohner des Hauses beschäftigt, es gab ein
Laufen, hinaus, herein, die Treppen hinauf. Kinderstimmen waren in
einem Raum zu hören, die von Frauen in einem anderen.
Die
Begrüßung, die er gesehen hatte, ließ ihn fast taumeln. Gut, dass
da ein Geländer war, an dem er sich festhalten konnte. Kaum, dass er
hörte, wie Fido sagte, er wolle seine Wachentracht ablegen. »Folge
mir bitte in mein Zimmer.« Eine Tür knarrte, eine Schwelle ließ
ihn fast stolpern, Fido lächelte ihm zu.
Hieronymus
sah sich um. Eine niedere, aber sehr breite Bettstatt fiel ihm als
erstes auf, die mit bunten Decken geziert war, wunderschönen bunten
Webarbeiten und Wollstickerei. Es gab einen ebenfalls niedrigen Tisch
mit einem kleinen Hocker davor.
»Setz
dich doch!« lud Fido ein, der die Bänder seines Wamses löste. Ein
wenig unschlüssig sah der Gast sich um, aufs Bett setzen? »Ja,
scheu dich nicht!« Er tat es. Er hörte das Knistern des Strohsacks
und fühlte die weiche Wolle der Überdecke. Fido war nun beim Hemd
angekommen. Ein herrlich gebauter, muskulöser Oberkörper wurde
sichtbar, ähnlich denen griechischer Statuen. Fido bewegte sich
natürlich und unschuldig, gerade wie Adam vor dem Sündenfall. Ganz
furchtlos löste er auch seinen Gürtel. Hieronymus schwankte, ob er
schauen oder sich fortwenden sollte. Er verdeckte sein halbes Gesicht
mit der Hand, konnte aber nicht umhin, einen kurzen Blick auf den
schönen Mann zu werfen. Der kehrte ihm nun die Rückseite zu und
ergriff ein Kleidungsstück, das an einem Schrank hing. Fidos Rücken
war ebenmäßig und breit. Seine Hinterbacken waren fest und seitlich
eingetieft und hatten die gleiche Goldtönung wie Fidos Arme und
Beine. Auf seiner linken Hüfte entdeckte Lohebrannt ein Bild. Es war
ein Fuchs, der hochsprang, sicherlich, um eine Maus unter dem Schnee
zu fangen. Der Stil war altertümlich und erinnerte Lohebrannt an
Ornamente aus irischen Büchern. Das Bild hatte eine annähernde
Kreisform und war etwa so groß wie ein Handteller. Als sich Fido nun
umdrehte, entdeckte Lohebrannt noch einen weiteren solchen Schmuck
auf seiner Haut, einen tanzenden Kranich, ebenfalls in
kalligrafischer Eleganz ausgeführt.
Fido
lächelte, als er seinen Blick sah: »Hautschmuck.«
»Was
bedeutet der?«
»Meine
Zugehörigkeit zu zwei Stämmen, Füchsen und Kranichen.«
Doch
lenkte ihn nun der Anblick von Fidos nacktem Körper ab. Er erinnerte
an die männlichen Aktstudien, die Hieronymus in der Werkstatt eines
Malers gesehen hatte. Fido band eine gewebte Borte um seine Mitte,
ergriff ein großes, gestreiftes Leinentuch und zog es vorn und
hinten durch diesen Gürtel, so dass das Tuch durch seinen Schritt
verlief und vorn und hinten bis zu den Knien herabhing. Darüber zog
er ein Hemd, ebenfalls aus sommerlichem Stoff, blau gefärbt und
schon ein wenig verblichen.
Hieronymus
hatte schon im Korridor des Hauses ähnliche Kleidung bemerkt, sich
aber nicht weiter damit beschäftigt.
Er
war es gewöhnt, seltsame Trachten zu sehen.
Der
Krieg lehrte das Improvisieren. Die Landsknechte schwelgten gern in
üppigen Stoffen, die um ihre Hüften bis zu den Waden wogten, wo sie
mit ebenso mächtigen Schleifen gebunden waren. Solche Beinkleider
hatten einen Fluss wie geraffte Röcke der Damen und ließen als
Herkunft die Plünderung reicher Häuser vermuten. Und so schämten
sie sich auch nicht, in gestreiften türkischen Seiden oder
venezianischem Blumensamt herumzulaufen.
Fidos
Tracht war aus weit schlichterem Stoff, doch verbarg und entblößte
sie bei jedem Schritt Oberschenkel und Hinterbacken, so dass
Hieronymus nicht wusste, wie ihm geschah.
Fido
setzte sich zu Hieronymus auf das Bett.
Jetzt
fühlte Hieronymus die Wärme, die vom Körper seines neuen Freundes
ausging.
»Ihr
wart noch nie bei uns, den Thieren Gottes?« fragte er sanft.
Hieronymus schüttelte den Kopf.
»Wie
ist das für Euch?«
»Wie…«
– Eine solche Frage hatte man ihm noch nie gestellt!
Fido
lächelte. »Nun, fühlt Ihr Euch wohl bei uns? Oder möchtet Ihr
lieber gehen?«
Hieronymus
machte eine kleine Bewegung, wie um sich zu erheben. War das eine
höfliche Form, ihn so wieder auszuladen? Hatte er die Erwartung
nicht erfüllt – aber wenn, welche dann? Halb erhob er sich schon.
»Na,
halt, halt«, zog Fido ihn am Arm, so dass er wieder auf das Bett
plumpste, »Ihr fürchtet Euch doch nicht?«
»N-nein,
was würdet Ihr mir denn tun, wo Ihr mich doch schon gewarnt habt…«
»Ihr
fürchtet uns trotzdem, kann das sein? Auch wenn wir im Dienst der
Menschen stehen?«
»Nein,
ich fürchte mich nicht. Nur habe ich noch nie…«
Fido
kam ihm sehr nah: »… einen Mann geküsst?«
Sein
warmer Atem streifte das Gesicht nah vor ihm.
»Rooni«,
sagte Fido zärtlich.
Da
stieg etwas aus den Tiefen der Vergangenheit, ein Name, den liebe
Menschen zu ihm sagten, fast vergessen, geschützt wie ein Küken,
das man an seiner Brust im Rock verbirgt, damit es nicht friert und
auch nicht zu sehen ist. »Rooni« – wie kann er das wissen? Aber
ergibt es sich nicht aus dem Namen, wenn man ihn abkürzen möchte?
Hieronymus
spürte einen feinen, verlockenden Duft, konnte ihn nicht zuordnen,
ein wenig wie Pilze, wenn man sie in Butter brät… Oder auch wie
eine Blume, deren Namen er vergessen hat… Er schloss die Augen und
genoss den Moment.
Als
er die Augen wieder öffnete, lag er rücklings auf dem Bett, die
Beine davon herabhängend, im Sitzen nach hinten gesunken. Er sah die
Deckenbalken, den Bettvorhang, eine brennende Kerze auf dem Tisch.
Ihm war, als hätte Fido sie entzündet, aber der war nicht hier.
Hieronymus richtete sich auf und lauschte auf die Geräusche im Haus.
Er hatte wohl einen Moment geschlafen und war noch ein wenig
benebelt. Schritte waren auf dem Gang zu hören, dann trat Fido ein.
Er trug ein Tablett mit dampfenden Speisen. Dieses stellte er auf dem
Hocker ab und rückte beides vor seinen Gast.
»Gut
geschlafen?« fragte er sanft.
»Himmelherrgott
– wieviel Uhr haben wir es?«
»Halb
3, glaube ich.«
»Hört
man hier die Uhr von St. Olaf schlagen?«
»Bei
Ostwind ja.«
»Ich
weiß nicht mehr, was passiert ist…«
»Das
geht nicht nur Euch so, das geschieht, wenn jemand uns nah kommt und
uns nicht gewöhnt ist. Sie fallen in Schlaf.« Fido schnitt eine
Kohlpirogge auf, während er sprach, und lächelte dann. Hieronymus
war zu aufgeregt, um mit dem Essen anzufangen.
»Was
ist geschehen?« fragte er.
»Du
hast mich geküsst!« antwortete Fido, unmittelbar zum Du übergehend.
Hieronymus sah ihn verwundert an. Er bewegte seinen Kopf zur Seite,
damit der Schatten seines eigenen Kopfes nicht Fidos Gesicht
verdunkelte. Fido lächelte, ohne sich zu bewegen.
»Das
kann ich mir nicht vorstellen!« Hieronymus versuchte, ruhig zu
wirken, aber es fuhr durch ihn wie ein Blitz. Fido lächelte weiter
und neigte seinen Kopf ein wenig nach rechts und wieder nach links.
»Mein Dornröschen hat der Kuss nicht geweckt, sondern in Schlaf
versetzt«, antwortete er, hob seine Hand und strich seinem Freund,
der es ganz erstarrt geschehen ließ, mit einem Finger über die
Wange.
»Deine
Pirogge wird kalt«, sagte er dann.
Er
griff zu einer Karaffe, die ebenfalls auf dem Tablett stand, und goss
Wasser in ein Glas. »Ihr Menschen trinkt Wasser nur mit Wein, ist
das richtig?«
»Ich
bitte darum.«
Fido
stand auf, holte eine Weinflasche aus dem Schrank und füllte das
bisher halbvolle Glas mit Wein auf.
Hieronymus
griff zur Gabel und begann zu essen. Die Pirogge schmeckte ihm
ausgezeichnet. Sie war milder gewürzt und weniger gesalzen als im
Moritzhaus, aber das fand er jetzt angenehm.
Auch
Fido nahm sich ein Stück Pirogge, nahm ein Stück vom Kohlblatt, auf
dem die Speise serviert worden war, wickelte es um den Bissen und
knabberte daran.
»Keinen
Wein für dich?« fragte Hieronymus ein wenig misstrauisch.
»Wir
vertragen keinen«, antwortete Fido.
Sie
aßen eine Weile schweigend. Durch die angelehnte Tür drang Lärm
von unten, Lachen, Singen, ein Saiteninstrument, eine Trommel. Dann
kam eine Sackpfeife dazu. Trampeln im Takt, sie tanzten offenbar.
»Deine
Leute feiern ein Fest. Möchtest du nicht bei ihnen sein?« fragte
Hieronymus seinen Gastgeber.
»Möchtest
du denn?«
Hieronymus
schüttelte den Kopf. »Ich muss mich erst daran gewöhnen, bei euch
zu sein«, sagte er.
»Ja,
ich glaube auch«, entgegnete Fido, »und ich bin glücklich, dich
für mich zu haben.«
Die
freimütige Äußerung schockierte Hieronymus beinahe.
Fido
räumte das abgegessene Tablett auf den Tisch. Dann wandte er sich
wieder seinem Gast zu. Er hob langsam die Hand, geradeso, als wolle
er vermeiden, ein schreckhaftes Tier zu vertreiben. So näherte sich
die Hand wieder dem Schreiber, strich ihm die Haare aus den Schläfen,
liebkoste das Ohr, die Wange, den Mundwinkel, beugte sich dann wieder
vor, bis Hieronymus seinen Atem spürte, verhielt dann aber und
schien zu warten. Hieronymus fühlte, wie schnell sein Herz schlug,
und in seiner Magengegend war ein Zittern.
Er
nahm noch einen Schluck von dem verdünnten Wein. Vielleicht half
das. Es war ein wenig Flucht dabei, aus der fühlbaren Nähe seines
neuen Freundes. Dann aber kehrte er in diese Nähe zurück. Dies war
ein neuer Moment in seinem Leben, einer, der nichts mit seinem
früheren Dasein zu tun hatte.
Musste
man diese Wesen nicht fürchten, wenn man ihnen allein
gegenüberstand? Fern von der Wache, fern von anderen Menschen? Waren
sie nicht gefährlich? Waren sie nicht legendäre Krieger und besaßen
sie nicht diese messerscharfen Zähne, die sogar nachwuchsen, wenn
ihnen einer ausgeschlagen wurde?
Da
saß er aber im Kerzenlicht, schaute reglos Hieronymus an und
wartete. Und dieser beugte sich wieder ihm zu, schob seine Wange an
die des jungen Mannes und verharrte schwer atmend. Der Junge nahm
vorsichtig den Kopf seines Freundes in beide Hände und graste mit
den Lippen die Wange, den Nasenrücken, endlich die Lippen ab, immer
auf den nächsten Impuls wartend. Und ebenso beantwortete Lohebrannt
seine zarten Berührungen. Er fasste die Lippen mit den eigenen,
fühlte die warme Nässe der anderen Zunge. Eine Gier stieg auf in
ihm, vertraut aus Kriegsnächten, doch da mit den Weibern, die den
Tross begleiteten. Er dachte an schnelles Stillen des Triebs, an
fremd bleibende Körper, nur nah genug, um ihn aufzunehmen,
bedrohlich fast in ihrer Massigkeit, wenn er – damals zwanzig,
fünfundzwanzig Jahre alt – zu hungrig war, um auf eine innere
Stimme zu hören, die kalt und nüchtern unterbrach, was er tat, um
zu fragen: »Was tun wir da eigentlich? Wollen wir das wirklich?«
»Hast
du je geliebt?« murmelte das Tier an seinem Ohr.
»Meinst
du, mit dem Herzen oder mit dem Leibe allein?«
»Mich
bewegt alles, was du mir erzählen magst.«
»Ich
glaube wohl, aber das ist sehr lange her. Ich war noch fast ein Kind,
verlobte mich mit einer Kaufmannstochter, auch sie erst 16 Jahre alt.
Dann kam der Krieg, ihr Vater wurde getötet, in aller Eile
verheiratete man sie mit einem Älteren, so dass sie versorgt war.«
»Liebtest
du sie?«
»Ich
war doch so jung, ich weiß es nicht.«
»Dann
hast du sie nicht geliebt. Wenn man liebt, weiß man es.«
Als
paukte es ihm wer ins Ohr und trompetete es in die Welt hinaus, so
begriff er: Er liebte. Jetzt und mit aller Seele.
Sie
waren für einander geschaffen, wurde ihm klar. Er ließ Fido die
Bänder seines Wamses aufnesteln, den Knopf seines schlichten Kragens
öffnen. Er hob seine Hüften, um ihm das Abstreifen seiner
Beinkleider zu erleichtern. Fido löste die schlichten, zu einer
Masche gebundenen Bänder, die seine Beinkleider um die Knie
festhielten, und auch die Strümpfe, ebenso die Schleifen, die die
Fülle seiner Ärmel hielten, und streifte ihm das Hemd über den
Kopf.
Mit
Herzklopfen ließ er es geschehen.
Weiter
küsste ihn sein Freund, als Hieronymus in den Kissen lag, schamhaft
verglich er sich mit dem jungen Krieger, mit seiner vollkommenen
männlichen Figur, was für ein blasser Bürohengst war er doch! Er
malte Tag für Tag mit dem Gänsekiel die bezauberndsten Schwünge
und Spiralen über die Versalien, die den Brief mit Kaskaden der
Ehrerbietung übergossen, und mit den erstaunlichsten Kapriolen der
Feder setzten sie gleichsam die Höflichkeiten in Szene und
musizierten um sie herum. Aber sein eigener Körper war ein
Trauerspiel, nie der Sonne ausgesetzt, krumm vom Schreiben und vom
Beugen über die Vorlagen bei schlechtem Licht.
Da
glitt nun aber die Hand über seine Brust, liebkoste ihn, massierte
ihn, mied nichts, fürchtete nichts, so, als sei alles an ihm schön
und wert, gepriesen zu werden.
Als
wäre er wieder fünfundzwanzig, so strömte das Blut spürbar durch
ihn durch, wo es vorher träg geschlichen war. Und dass er nun steif
wurde, trieb ihm Schamröte ins Gesicht. Er zog die Decke über sich;
Fido zog sie sanft wieder weg. Liebkoste seine verborgenen
Körperteile nicht anders als Ohr und Wange. Küsste ihn, berührte
ihn, legte sich über ihn, ohne ihn mit seinem Gewicht zu erdrücken,
sondern ließ ihn nur die Wärme und die Festigkeit seines eigenen
Körpers spüren und seine männliche Kraft. Er drängte sich
Hieronymus nicht auf, ließ ihn nur spüren, was in ihm vorging, so
dass der Ältere wusste: Ja, du wirst begehrt. Ich verschmähe dich
nicht, im Gegenteil. Du bist der, den ich will.
Nun
wurde auch Hieronymus mutiger, strich erst mit den Fingerspitzen über
das harte Glied, das nah an seinem stand, erinnerte sich dann, dass
ein fester Griff angenehmer sei als zarte Berührung, fasste beherzt
zu und entlockte dem Jungen ein Stöhnen. Der eine hielt das
Geschlecht des anderen, so erschien es dem Älteren ziemlich genug,
wo es sich so gar nicht ziemte, was sie da taten, und so herrlich war
es doch. Überrascht von sich selber, konnte er nur schwer dem Wunsch
nachgeben, es einfach zu tun. Fido bemerkte sein Zögern. Wieder
küsste er ihn.
»Fühlst
du dich, als würde ich dich zwingen?« fragte er.
Hieronymus
lachte verlegen und schüttelte den Kopf.
»Dann
lass alle Furcht fahren«, sprach Fido an seinem Ohr.
So
steigerten sie die Lust, einer dem anderen, und wenn Hieronymus noch
Anflüge von Scham und Skrupel hatte, vergingen sie in diesem Rausch,
der ihn endlich in einem Wirbel von Glück vergehen ließ.
Als
er wieder verstand, wo oben und wo unten sei, ob Tag oder Nacht, ob
er daheim oder zu Gast sei, ob Männlein oder Weiblein, da kehrte
langsam die Scham zurück. Indessen hatte Fido ein Tuch ergriffen und
trocknete ihrer beiden Körper. Fido, der ihn danach wieder in das
gestickte Tuch hüllte und ihn in seine Arme nahm, spürte, wie die
Haltung seines Freundes sich veränderte, wie Arme und Rücken sich
verhärteten. Das war nicht eigentlich Abwehr, aber Unbehagen, und
das verstand er sofort. Er gab seinem Gast Zeit, sich zu sammeln und
zu begreifen, was geschehen war. Er rollte noch eine etwas wärmere
Decke über seinen Freund, zog ihn ein wenig näher zu sich und
seufzte zufrieden.
»Denkst
du, du kannst ein wenig schlafen, mein Liebster?«
Das
hörte Lohebrannt kaum noch, denn wieder umfing ihn diese
genießerische Trägheit wie vorhin schon. Ein kleiner Gedanke an die
Gebräuche im Moritzhaus tauchte kurz auf, daran, dass es nicht
beliebt war, wenn man bis nach zehn Uhr Nachts draußen blieb, denn
dann öffnete die grantige Schafferin, die nach einem harten Tag noch
einmal mit dem Schlüsselbund nach unten steigen und dann wieder
hinauf musste. Und erst recht würde er spöttische Kommentare
ernten, wenn er in denselben Kleidern zum Frühstück erschien. Aber
das war so fern und so unwichtig.
Um
Himmelswillen! Lohebrannt zuckte zusammen und sprang auf, als er von
St. Olaf her neun Glockenschläge hörte.
Es
war Sonntag, und es war bei Strafe verboten, dem Gottesdienst
fernzubleiben. Wenn er sich beeilte, konnte er noch zum Introitus
dort sein. Wo war Fido?
Hastig
fuhr er in seine Kleider. Nicht einmal in der Sauna war er gewesen.
Wie sollte er seine Haare kämmen? Er band die Schleifen seiner
Beinkleider und stieg in seine Schnallenschuhe. Er hätte fluchen
mögen über seine Wamsbänder, doch am heiligen Sonntag schickte es
sich nicht. Ganz und gar von Sünde durchdrungen fühlte er sich.
Just
als er angezogen war, trat Fido ein. Gänzlich nackt und so schön
wie Michelangelos David.