Er wandte sich Hieronymus zu; der sah von seinen Papieren auf.
Ihre Blicke trafen sich.
»Du bist so abweisend in letzter Zeit«, bemerkte Hieronymus.
»Wundert dich das?«
»Auf wen bist du jetzt eifersüchtig, auf Haigur oder auf unsere Bücher?«
»Grund hätte ich für beides.«
»Nun, wenn du das glaubst, schmolle weiter«, antwortete Hieronymus und beugte sich wieder über sein Manuskript.
Er
schaute noch einmal auf, weil er ein leises Geräusch hörte, das man bei
Thieren nicht oft hörte, das aber Grund war für Vorsicht und vielleicht
sogar Flucht: Fido knurrte wie ein Wolf, erst verhalten, dann
deutlicher. Seine Zähne waren gefletscht.
»Willst du mich schlagen?« fragte Hieronymus kühl, »oder gar beißen?«
»Nein«, brachte Fido mühsam hervor und dachte ‚ja‘, was deutlich zu spüren war.
Würde er sich jetzt alle Kleider vom Leibe reißen und bei Mondlicht in den Wald laufen wie ein Werwolf? Über solche Geschichten lachte Hieronymus, aber gerade jetzt war ihm nicht danach.
»Geh weg!« stieß Fido hervor, »lass mich allein!«
Hieronymus,
erschrocken, dass es so einen Ausgang nahm, erhob sich von seinem
Sessel. Eigentlich hätte er Fido umarmen wollen, aber der war rot und
zitterte. Seine Augen waren aufgerissen, und Hieronymus begriff, dass
man mit einem Thier nicht plänkeln durfte wie mit einem Mitmenschen. Da
war Ironie wie Phosphor, der sich in warmer Luft von allein entzündet
und nicht mehr zu löschen ist. Er machte eine beschwichtigende Geste und
verließ das Zimmer rückwärts.
Mit einigem Schrecken schloss er die Tür. Würde Fido so weit gehen, ihn anzugreifen? Bei aller Courtoisie, aller militärischen Disziplin, da saß das noch immer in ihm und konnte ihn wie ein Ungeheuer aussehen lassen… Er hörte durch die geschlossene Tür, wie Fido den Hinterausgang öffnete und mit schnellen Schritten über die Steinstufen verschwand. Er kehrte ins Zimmer zurück und schaute ihm nach. Fido lief eilig und in seinem unnachahmlichen flinken Thierschritt zum Turm und die Treppen hinauf. Wenige Sekunden später tigerte er den Wehrgang entlang. Viel zu schnell für eine Wache und zur Unzeit. Er traf den planmäßigen Wachhabenden an und schickte ihn mit einem Anranzer in die Wachstube, er werde die Schicht übernehmen, »du hast frei!«
Lohebrannt
folgte ihm zum Fuß des Turms, während auf dem Holz des Wehrgangs
bereits die ungeduldigen, zornigen Schritte zu hören waren, mit denen er
den Abschnitt auf und ab lief. Die freigestellte Wache kam den Turm
herab und rief einem anderen zu: »Warte, Kamerad, gehen wir noch auf ein
Bier in den ‚Schwarzen Mann‘?«
»Wieso hast du denn schon Feierabend?«
»Sylvester explodiert mal wieder.«
Sie nannten ihn den ‚Waldmann‘, merkte Hieronymus, was ihn in einer anderen Situation amüsiert hätte.
»Hast du was angestellt?«
»Nein, nix. Muss sein eigenes Problem sein.«
»Thiere halt… Dafür lieben wir sie«, bemerkte der Wächter, und sie schritten plaudernd den langen Domberg hinab.
Hieronymus hörte noch eine Weile den polternden Schritten da oben zu, und er ahnte, dass Fido das wusste.
Bislang hatte es Haigur immer geschafft, ihn zu beruhigen. Der war jetzt die Person, die eher Öl ins Feuer goss. Aber Hieronymus war es, der ihm das Wort sagen konnte, das Fido jetzt hören musste.
Er
ging wieder ins Haus und überlegte eine Weile. Er würde ihn sich ein
wenig austoben lassen, eine Viertelstunde vielleicht. Als die um war und
es von St. Nikolai die volle Stunde schlug, nahm er die große Tonkanne,
in der sie ihr Trinkwasser aufbewahrten, dazu zwei Zinnbecher, steckte
einen in seine Manteltasche, den anderen trug er in der Hand. Die Kanne
mochte mehr als zwei Liter fassen; sie war beinahe voll. Er stemmte sie
gegen seine Schulter und kehrte zum Wehrgang zurück. Die Treppe war ein
wenig schwierig, der Krug behinderte seine Sicht. Schließlich war er
oben. Er goss den Becher voll, gerade, als ihn Fido entdeckte. Der
zögerte und schaute. »Wünscht Ihr einen Trunk Wasser?« sagte Hieronymus,
und auf die dreißig, vierzig Schritte, die noch zwischen ihnen lagen,
hätte man ihn wohl nicht hören können, wenn dort nicht die scharfen
Ohren eines Thieres gelauscht, wenn nicht ein gekränktes, aber liebendes
Herz die Botschaft verstanden hätte.
Fido näherte sich langsam, wirklich wie ein misstrauisches Tier.
Als
er nah genug war, griff er nach dem Becher und stürzte den Inhalt
herunter. Er streckte den leeren Becher zu Hieronymus aus, und der goss
ihm lächelnd von neuem ein. Dieses Mal goss Fido sich das Wasser über
den Kopf, beugte sich nieder und verteilte es bis zum Nacken, es rann
ihm in den Kragen. Hieronymus streckte die freie Hand zu ihm hin, er
fühlte schon eine ungewöhnliche Hitze, die von dem Thier ausging;
tropfend schüttelte Fido den Kopf.
Hieronymus nahm den Becher,
füllte ihn noch einmal und stellte ihn auf das Geländer; dann schulterte
er den nun leichteren Krug und stieg die Treppe hinab.
Eine Weile blieb es still, dann, als Hieronymus eben den Turm verließ, schepperte der Becher hinter ihm auf dem Pflaster.
Er
drehte sich um; der Becher war leer gewesen. ‚Hat er ihn mir
nachgeworfen?‘ dachte Hieronymus. Er schaute das Gefäß an, es war
verbogen. ‚Das werden wir wieder hinbiegen‘, dachte er.
Wieder
hämmerten die Schritte auf dem Gang durch die Nacht. Aber sie schienen
ein wenig ruhiger, nicht mehr zornig, nur der Lauf einer wilden Kreatur
auf der Flucht.
Zwei Becher – er hatte gehofft, sie würden sie
zusammen leeren. Aber der Impuls hätte von Fido kommen müssen. Nun, dann
nicht. Nicht jetzt.
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